Weltweite Krebs-Challenge: Das Rätsel der DNA-Ringe

Der Kinderonkologe Prof. Dr. Anton Henssen von der Charité – Universitätsmedizin Berlin und vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) hat gemeinsam mit Forschenden aus den USA und Großbritannien den Zuschlag für eine „Cancer Grand Challenge“ erhalten: Mit fast 24 Millionen Euro wird das internationale Team die Rolle ringförmiger DNA bei der Entstehung und Bekämpfung von Krebs untersuchen. Das Berliner Team um Prof. Henssen erhält für die kommenden fünf Jahre mehr als eine Million Euro.

 

Im Jahr 2014 machte Prof. Henssen in den Zellen krebskranker Kinder eine ungewöhnliche Entdeckung. Er bemerkte, dass sich dort kleine Ringe aus DNA angesammelt hatten. Ein Teil der genetischen Information war somit nicht mehr wie gewöhnlich in den Chromosomen verpackt. Und ganz offensichtlich brachten die Ringe das restliche Erbgut derart durcheinander, dass die kindlichen Zellen anfingen, sich zu verändern. Das Thema hat den 36-jährigen Forscher und Arzt, der seit 2019 am Experimental and Clinical Research Center (ECRC), einer gemeinsamen Einrichtung von Charité und MDC, die Emmy Noether-Forschungsgruppe „Genomische Instabilität bei kindlichen Tumoren“ leitet, seither nicht mehr losgelassen.

„Als ich anfing, mich für die zirkuläre DNA und ihre Rolle bei der Entstehung von Krebs zu interessieren, war ich damit ziemlich allein“, erzählt Prof. Henssen. Er ist nicht nur Wissenschaftler, sondern kümmert sich auch als Kinderarzt an der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie der Charité um seine kleinen Krebspatient:innen. Inzwischen sei das Forschungsfeld jedoch weiter ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses gerückt, sagt Prof. Henssen. Schon seit knapp zwei Jahren werden der Wissenschaftler und sein Projekt „CancerCirculome“ mit einem Starting Grant des European Research Council (ERC) unterstützt. 

Auch der Förderinitiative „Cancer Grand Challenges“ – die seit 2020 von den beiden größten Geldgebern in der Krebsforschung weltweit, der Cancer Research UK und dem National Cancer Institute der National Institutes of Health in den USA, getragen wird – ist die bislang womöglich unterschätzte Rolle der winzigen DNA-Ringe nicht entgangen. Als eine von neun großen Herausforderungen in der Krebsforschung wählte sie das Thema „Extrachromosomale DNA“, kurz ecDNA. Die „Cancer Grand Challenges“ unterstützen derzeit mehr als 700 Forschende und Befürworter:innen in zehn Ländern. Elf Teams stellen sich bereits den schwierigsten Herausforderungen in der Krebsforschung – am 16. Juni wurden vier neue Teams bekannt gegeben.

„Für mich stand damit fest, dass ich an dieser Challenge teilnehmen will“, erzählt Prof. Henssen, der am 1. Juni an der Charité eine Mildred-Scheel-Professur der Deutschen Krebshilfe angetreten hat. Weltweit gebe es gerade einmal eine Handvoll Gruppen, die sich mit dem Thema beschäftigen. Nun hat das Team aus den USA, Großbritannien und Deutschland, das von Prof. Paul Mischel von Stanford Medicine in Kalifornien geleitet wird, mit seinem Projekt „eDyNAmiC“ (extrachromosomal DNA in Cancer) den Zuschlag erhalten. Verbunden ist damit eine finanzielle Förderung in Höhe von 20 Millionen britischen Pfund für die kommenden fünf Jahre. Etwa eine Million davon wird Prof. Henssen und seinem Berliner Team zur Verfügung stehen. Man wisse inzwischen, dass fast ein Drittel aller kindlichen und erwachsenen Tumore in ihren Zellen DNA-Ringe tragen und dass diese Tumore fast immer besonders aggressiv seien, sagt Prof. Henssen. „Wir wollen nun herausfinden, was genau diese Ringe so gefährlich macht, wie sie entstehen und wie wir sie ausbremsen können – um so effektivere Therapien zu entwickeln.“ Dieser Herausforderung stellen sich im Projektteam nicht nur Biolog:innen und Mediziner:innen, sondern auch Mathematiker:innen und Informatiker:innen.

Prof. Henssen und sein Berliner Team, zu dem auch Forschende des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH) gehören, wollen sich zunächst die Struktur der Ringe genauer anschauen und herausfinden, wie ihre DNA in Histonen und anderen Proteinen verpackt ist und wie die Expression ihrer Gene reguliert wird. „Denn möglicherweise führen Veränderungen in der Genexpression dazu, dass Tumore mithilfe der Ringe gegen die derzeit vorhandenen Therapien resistent werden“, sagt er. Dass sein einst vermeintliches Nischenthema nun eine solch große Aufmerksamkeit und Unterstützung erhält, freut Prof. Henssen natürlich sehr. „Mir persönlich hätte nichts Besseres passieren können“, sagt der Forscher. Seine große Hoffnung ist nun, seinen Patient:innen in absehbarer Zeit zu helfen, die ihr Leben noch vor sich haben – dank einer neuartigen Therapie, die die Ringe attackiert und so den tödlichen Tumor verschwinden lässt.

Über die Charité – Universitätsmedizin Berlin
Die Charité – Universitätsmedizin Berlin ist mit rund 100 Kliniken und Instituten an 4 Campi sowie 3.099 Betten eine der größten Universitätskliniken Europas. Forschung, Lehre und Krankenversorgung sind eng miteinander vernetzt. Mit Charité-weit durchschnittlich 17.615 und konzernweit durchschnittlich 20.921 Beschäftigten gehört die Berliner Universitätsmedizin auch 2021 zu den größten Arbeitgebern der Hauptstadt. Dabei waren 5.047 der Beschäftigten in der Pflege und 4.988 im wissenschaftlichen und ärztlichen Bereich sowie 1.265 in der Verwaltung tätig. An der Charité konnten im vergangenen Jahr 123.793 voll- und teilstationäre Fälle sowie 682.731 ambulante Fälle behandelt werden. Im Jahr 2021 hat die Charité Gesamteinnahmen von rund 2,3 Milliarden Euro, inklusive Drittmitteleinnahmen und Investitionszuschüssen, erzielt. Mit 215,8 Millionen Euro eingenommenen Drittmitteln erreichte die Charité 2021 einen erneuten Rekord. An einer der größten medizinischen Fakultät Deutschlands werden mehr als 9.000 Studierende in Human- und Zahnmedizin sowie Gesundheitswissenschaften und Pflege ausgebildet. Darüber hinaus werden 730 Ausbildungsplätze in 11 Gesundheitsberufen sowie 111 in 8 weiteren Berufen angeboten. Die Berliner Universitätsmedizin setzt Akzente in den Forschungsschwerpunkten: Infektion, Inflammation und Immunität einschließlich Forschung zu COVID-19, Kardiovaskuläre Forschung und Metabolismus, Neurowissenschaften, Onkologie, Regenerative Therapien sowie Seltene Erkrankungen und Genetik. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Charité arbeiten unter anderem in 28 DFG-Sonderforschungsbereichen, darunter sieben mit Sprecherfunktion, in drei Exzellenzclustern, davon eines mit Sprecherschaft, 10 Emmy Noether-Nachwuchsgruppen, 14 Grants des European Research Councils und 8 europäischen Verbundprojekten mit Charité-Koordination. Forschung an der Charité