Spezialthema | Virchow im 21. Jahrhundert – das Berlin Cell Hospital

Zellbasierte Medizin hat das Potenzial, Krankheiten zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, lange bevor Symptome sichtbar werden. Dafür nutzt der vergleichsweise junge medizinische Ansatz eine Vielzahl neuer Technologien. Das neu in der Hauptstadt gegründete Berlin Cell Hospital soll den Grundstein für die Weiterentwicklung und Implementierung der zellbasierten Medizin im Gesundheitswesen legen.

 

 

Der berühmte Berliner Pathologe und Arzt Rudolf Virchow stellte in seiner Forschung zur Zellularpathologie fest, dass Zellen immer aus anderen Zellen hervorgehen. Für Virchow war die Zelle deshalb „das letzte eigentliche Form-Element aller lebendigen Erscheinungen“. Mit dieser Zelltheorie veränderte er die Medizin und das ärztliche Handeln. Virchow wollte verstehen, was in Zellen abläuft, um so Krankheiten besser diagnostizieren und heilen zu können.

Gründung zum 200. Geburtstag von Rudolf Virchow
Zu seinem 200. Geburtstag, am 13. Oktober 2021, hat sich nun eine Gemeinschaft aus dem Max-Delbrück-Centrum (MDC), der Charité Berlin, dem Berlin Institute of Health (BIH) und dem auf Maschinenlernen und Datenanalytik spezialisierte Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data (BIFOLD) zusammengefunden, um in Virchows Fußstapfen zu treten und die Medizin erneut zu verändern. Im Berlin Cell Hospital (BCH) wollen sie die Forschung und Praxis im Bereich der zellbasierten Medizin voranbringen.

Krankheiten früher auf die Spur kommen
Der Grundansatz der zellbasierten Medizin ist es, Krankheiten zu erkennen, lange bevor sich die ersten Symptome zeigen. Denn wenn diese sichtbar werden, sind Krankheiten oft schon fortgeschritten und es ist eine aufwendige Behandlung nötig, die nicht immer zum Erfolg führt.

Erst seit Kurzem ist es Wissenschaftler:innen möglich – unter anderem in der Einzelzellbiologie und in der stammzellbasierten Organoid-Forschung –, die genetische Aktivität einzelner Körperzellen zu analysieren. Dabei lässt sich unter anderem beobachten, wie einzelne Zellen mit anderen kommunizieren und auf neue Umweltbedingungen reagieren. Die Datenmengen, die dabei für jede einzelne Zelle entstehen, entsprechen in ihrer Größenordnung klassischen Genomik-Ansätzen und werden mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) ausgewertet. Auf diese Weise lässt sich jede einzelne Zelle in einem Gewebe analysieren und verstehen, wie, wann und warum sie krank wird. Dadurch werden neue „Targets“ für Medikamente/Interventionen gefunden. So ließe sich die Lücke zwischen Prävention und der Behandlung von Patient:innen mit Symptomen schließen. Im Endergebnis soll eine stark individualisierte Therapie oder gar eine Prävention beispielsweise von Krebs stehen. Ähnliche Ziele verfolgt in Berlin auch die Forschung am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) von der Charité, dem BIH und MDC. Dort arbeiten ebenfalls Ärzte mit Forschern zusammen, um jeder Patientin und jedem Patienten eine auf die eigene Erkrankung zugeschnittene Krebstherapie anzubieten.

Implementierung der zellbasierten Medizin – das BCH konstituiert sich
„Das Hauptziel des BCH ist die Implementierung von zellbasierter Medizin. Dafür soll keine klassische Klinik oder eine Forschungseinrichtung entstehen, sondern wir wollen ein Art Ökosystem für Forschung, Translation und Innovation zur Verbesserung der Ergebnisse für Patient:innen etablieren, um alle Aspekte der zellbasierten Medizin abzudecken“, sagt Dr. Stan Gorski, Executive Science Strategy Officer am BCH. Führend entwickelt haben das Projekt Professor Nikolaus Rajewsky, wissenschaftlicher Direktor des Berliner Institut für Medizinische Systembiologie am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und Sprecher des BCH und Professorin Angelika Eggert, Direktorin der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie an der Charité – Universitätsmedizin (Co-Sprecherin). Die Idee zur zellbasierten Medizin kommt ursprünglich auch von Professor Nikolaus Rajewsky. Er koordinierte die Entwicklung des Konzepts zusammen mit mehr als 200 Wissenschaftler:innen aus fast 200 Forschungseinrichtungen in 21 Ländern innerhalb des europäischen LifeTime Initiative.

„Derzeit ist das BCH dabei, sich zu konstituieren. Wir bringen die unterschiedlichen Akteure aus den Gründungsorganisationen zusammen, die für die Arbeit des BCH Wichtiges leisten können“, sagt Gorski. Langfristig soll es auch einen Standort geben, an dem Forschung stattfindet, Firmen daran arbeiten, marktfähige Produkte zu entwickeln und Patienten sowie Bürger über den neuen Ansatz informiert werden. Auch Mediziner:innen sollen darin geschult werden. Für ihre Arbeit hoffen die Initiatoren des BCH auf Förderung und Investitionen aus der öffentlichen Hand und der Wirtschaft. Als einen ersten Bestandteil des BCH entwickeln die Partner momentan das Innovationscluster „Virchow 2.0 – Innovationscluster für zellbasierte Medizin in Berlin-Brandenburg“. Das Netzwerk hat sich den Aufbau eines biomedizinischen KI-Innovationsökosystems zur Umsetzung zellbasierter Medizin in Berlin zum Ziel gesetzt. Zu diesem Zweck sind aktuell Projektteams aus dem akademischen Bereich und der Industrie aufgerufen, bis zum 12. Dezember 2021 ihre Ideen für kooperative F&E-Projekte vorzuschlagen. Ausgewählte Projekte aus den Bereichen Einzelzelltechnologien, KI sowie von Patienten-abgeleitete Krankheitsmodelle werden dann in die endgültige Clusterstrategie von Virchow 2.0 aufgenommen. So soll Virchow 2.0 dazu beitragen, Ergebnisse aus der Spitzenforschung schneller und direkter zu den Bürger:innen zu bringen.

Das Erste seiner Art
Dass das BCH in Berlin angesiedelt ist, ist kein Zufall. „In Berlin kommen alle wichtigen Faktoren für unsere Arbeit zusammen. Mit der Charité ist hier eines der besten Universitätskrankenhäuser Europas zuhause. Die Infrastrukturen für Forschung und Translation sind auch über das MDC, BIFOLD und das BIH hinaus großartig“, sagt Gorski.

Etwas Vergleichbares zum BCH gibt es bisher weltweit nicht für zellbasierte Medizin. Das BCH könnte die Hauptstadtregion also langfristig zu einem international führenden Innovationsstandort machen, der mit dem Innovationszentrum rund um die Harvard Medical School an der US-Ostküste und den dort angesiedelten Firmen mithalten kann.

 

 

 

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