Wie ein Taucher in der Tiefsee

Strukturbiologen nutzen modernste Technologien wie die Kryo-Elektronenmikroskopie, um Einblicke in die Architektur von Molekülen zu gewinnen. Am MDC nimmt nun eine Strukturbiologie-Forschungsgruppe ihre Arbeit auf: Ihr Leiter Misha Kudryashev hat sich den Membranproteinkomplexen verschrieben.

Als „Tauchgang ins Ungewisse“ beschreibt Dr. Misha Kudryashev seine Anfänge in der Biophysik. Vor 16 Jahren hat er seine Heimat Russland hinter sich gelassen, um das Fachgebiet von Deutschland aus zu erobern. Mittlerweile ist er in der Biophysik wie auch in Deutschland voll angekommen. Seit dem 1. August baut der 38-Jährige am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) eine Forschungsgruppe „In situ Strukturbiologie“ auf.  

 

Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Strukturbiologie von Membranproteinkomplexen. Das sind Proteine, die in die Lipidschicht von Zellmembranen eingebettet sind und eine wichtige Rolle im Leben der Zellen spielen. Einer ihrer Aufgaben besteht in der Aktivierung von Ionenkanälen, die die Erregungsleitung in den Nerven- und Muskelzellen steuern. „Ich will verstehen, wie diese Membranproteine strukturiert sind und wie sie reguliert werden“, sagt Kudryashev. „Ihre Steuerungsmechanismen sind für die Entwicklung von Medikamenten sehr interessant. Wirkstoffe, die bestimmte Proteine an- oder ausschalten können, können Krankheiten heilen oder die Lebensqualität verbessern.“

Kryo-EM liefert außergewöhnlich hohe Auflösung

Um in die verborgene Welt der Proteine, ihrer Struktur und ihrer Mechanismen einzutauchen, nutzt Kudryashev moderne bildgebende Verfahren wie die Kryo-Elektronenmikroskopie (Kryo-EM) und die Kryo-Elektronentomographie (Kryo-TM). Damit ist es möglich, Zellen oder ihre einzelnen Bestandteile in ihrem natürlichen Zustand und in ihrer zellulären Umgebung – in situ – zu betrachten. Bei der Kryo-EM werden gereinigte Proteine oder ganze Zellen blitzschnell eingefroren. Ein Elektronenstrahl durchdringt die Probe, die von einer dünnen Schicht aus glasartigem, nicht kristallinem Eis umhüllt ist. Dabei entstehen Transmissionsbilder, die aufgenommen werden. Aus mehreren zweidimensionalen Aufnahmen einer Probe errechnet eine Software eine exakte dreidimensionale Abbildung – ein Tomogramm. Solche Tomogramme liefern Informationen über die Interaktion von Molekülen innerhalb von Zellen und über die Struktur von Proteinen „in situ“, also in ihrer natürlichen Umgebung. Kudryashevs Team entwickelt Algorithmen für diesen technisch sehr anspruchsvollen Prozess, um die höchstmögliche Auflösung zu erreichen.

Für diese Arbeit findet Misha Kudryashev am Forschungscampus in Buch eine hervorragende Infrastruktur vor. Im März dieses Jahres hat die Kryo-EM Core Facility der Charité – Universitätsmedizin Berlin in Zusammenarbeit mit dem MDC und dem Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) ihren Betrieb aufgenommen. Kudryashev schwärmt von der Top-Ausstattung und dem Kryo-Team: „Die Leute wissen, was sie tun. Ich freue mich wirklich sehr auf die Zusammenarbeit.“     

„Irgendwas mit Computern“

Zur Biophysik ist Misha Kudryashev beinahe zufällig gekommen – tatsächlich wie ein Taucher, der in die Tiefe schwimmt, ohne zu wissen, was ihn dort erwartet. Dort aber etwas findet, das allem Weiteren in seinem Leben die Richtung vorgibt. Eigentlich wollte er Mathematik studieren, schaffte aber die Aufnahmeprüfung nicht. Weil er „irgendwas mit Computern“ machen wollte und in der Physik viele Daten anfallen, entschied er sich, an der Universität von Krasnojarsk in Sibirien Physik zu studieren. Nebenher arbeitete er als Nachwuchsforscher am Institut für rechnergestütztes Modellieren, wo er für seine Diplomarbeit Proteinsequenzen analysierte. 2001 war gerade das menschliche Genom entschlüsselt worden. „Ich war fasziniert von den großen Datenmengen, die bei der Proteinsequenzierung anfallen, und davon, die Struktur von Proteinen anhand ihrer Sequenzen vorhersagen zu können“, erinnert er sich. 2005 schloss er mit Auszeichnung ab.  

„Nach dem Studium blieb mir nichts weiter übrig, als ins Ausland zu gehen“, erzählt der Wissenschaftler. „Ich wollte unbedingt in die Forschung – das wäre aber damals in Russland ohne Nebenjob nicht möglich gewesen.“ Er bewarb sich um eine Postdoktoranden-Stelle am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg, scheiterte erneut an der Aufnahmeprüfung, diesmal in Biologie – erhielt aber im gleichen Atemzug das Angebot, in einem anderen Heidelberger Labor anzufangen. Das Team von Professor Friedrich Frischknecht an der Heidelberger Universität untersucht, wie es Malaria-Parasiten gelingt, unbeschadet aus einer Mücke durch ihren Saugrüssel in die Haut eines Menschen zu gelangen und sich durch die Haut bis zu einem Blutgefäß zu bohren. Auf der Suche nach einem Medikament, das die Parasiten in ihrer Beweglichkeit einschränken sollte, bestand der Part von Misha Kudryashev in der Bildanalyse. Mithilfe der Fluoreszenzmikroskopie beobachteten die Wissenschaftler*innen, wie die Parasiten auf chemische Verbindungen reagieren. Das ging schneller als erwartet – und wie nebenbei gelang es den Wissenschaftler*innen mithilfe der Kryo-Elektronenmikroskopie, die Architektur der einzelligen Parasiten abzubilden. Das Team konnte eines der ersten Geräte nutzen, die am Max-Planck-Institut für Biophysik in München installiert waren – zumindest, wenn es nicht anderweitig belegt war, erinnert sich Kudryashev. „Ich habe deshalb viele Nächte in München mit dem Aufzeichnen von Daten statt im Biergarten verbracht.“

Die Technologie, kombiniert mit rechnergestützter Datenverarbeitung, hatte es ihm angetan. Nach vier Jahren in Heidelberg ging Misha Kudryashev 2009 ans Biozentrum der Universität Basel. Im Labor von Professor Henning Stahlberg erforschte er Proteine in den Membranen von Bakterien. Sein Hauptaugenmerk lag dabei auf dem Vorgang, bei dem Bakterien Enzyme und Toxine in ihre Umgebung oder in die Wirtszellen absondern. Er beschäftigte sich mit dem Sekretionssystem, das der Pest- (Yersinia Pestis) und der Ruhrerreger (Shigella) nutzen und fertigte die ersten Strukturen dieses Proteinkomplexes aus Kryo-Elektronentomogrammen, deren Auflösung er hochschraubte. „Eine sehr wirkungsvolle Methode“, sagt er, „wir nutzen sie noch heute.“

„Die Strukturbiologie hat es in sich“

Seine erste eigene Gruppe übernahm Misha Kudryashev 2015 am Max-Planck-Institut für Biophysik und dem Buchmann-Institut für Molekulare Lebenswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt / Main. Finanziert über den „Sofja Kovalevskaja Award“ der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG ) untersuchte er mit seinem Team die Struktur und Aktivierung von Ionenkanälen. Mit seiner Forschung in Berlin knüpft er nahtlos an seine bisherige Arbeit an. „Wir wollen die Struktur von Membranproteinen in ihrem natürlichen Zustand entschlüsseln, die dafür zur Verfügung stehenden Methoden weiterentwickeln und diese der Wissenschaftscommunity zur Verfügung stellen.“ Er möchte langfristige Forschungskontakte aufbauen und für Mitstreiter*innen ein gutes Umfeld schaffen. „Die Strukturbiologie hat es in sich“, sagt der Physiker. „Die Hardware ist teuer, die Software kompliziert. Je mehr Leute sich damit beschäftigen, um so einfacher ist es für andere Wissenschaftler*innen, Teil des Netzwerks zu werden.“

Auf lange Sicht will er Membranproteinkomplexe besser verstehen – wie sie konstruiert sind, wie sie funktionieren, wie sie beeinflusst werden können. „Ich glaube, dass die Strukturen von Membranproteinen, die wir derzeit kennen, nicht ganz korrekt sind. Ich hoffe es beinahe – dann ist meine Forschung sinnvoller.“