Aktuelles Interview: Prof. Dr. Nikolaus Rajewsky, Direktor des „Berlin Institute for Medical Systems Biology“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin

Nikolaus Rajewsky studierte Mathematik und Physik in seiner Heimatstadt Köln. Auf seine Promotion folgten Auslandsstationen in New Jersey und New York. 2006 kehrte der heute 50-Jährige nach Deutschland zurück und ist seither Professor für Systembiologie am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) und an der Charité in Berlin. 2008 gründete er das „Berlin Institute for Medical Systems Biology“ (BIMSB) als neue Forschungseinheit am MDC. Im Februar 2019 wird es mit 250 MitarbeiterInnen und 16 Groupleadern in ein neues Gebäude auf dem Campus der Humboldt-Universität ziehen. Rajewskys Forschungsschwerpunkt liegt in der Aufklärung der Rolle und Funktion von nicht-codierenden RNAs, die eine Schlüsselrolle bei der Steuerung zellulärer Prozesse, aber auch bei der Entstehung von Krankheiten spielen. Er kombiniert computerbasierte Methoden aus der Informatik, Statistik und theoretischen Physik mit Biochemie und Molekularbiologie. Im Interview spricht der mehrfach preisgekrönte Forscher über den Nutzen der Systembiologie, europäische Exzellenz und Krankheitsprognosen.

Vor 10 Jahren haben Sie das Institut für medizinische Systembiologie (BIMSB) am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin gegründet und leiten dieses seitdem. Was heißt Systembiologie und welche Auswirkungen hat diese auf die Medizin?

Bei der Systembiologie geht es darum, komplexe biologische Systeme im Ganzen zu verstehen. Das können einzelne Zellen sein oder individuelle Organismen, aber auch ganze Spezies. Um ein System auf verschiedenen, wechselwirkenden Ebenen zu beschreiben, braucht es die Symbiose verschiedener Disziplinen wie der Mathematik, Bioinformatik, Molekularbiologie, Biochemie oder des Ingenieurswesens. Und es sind moderne Hochdurchsatzverfahren nötig, die in kurzer Zeit die riesigen Mengen an biologischen Informationen auslesen. Dazu gehört die Analyse der RNA in Millionen individuellen Zellen, oder deren (epi-)genetische Information. Aber auch bildgebende Methoden kommen zum Einsatz und liefern Einblicke in Gewebe – in nie dagewesener Präzision. Mit der Analyse komplexer Systeme wie zum Beispiel dem menschlichen Körper steht die Systembiologie an der Schnittstelle zwischen den Lebenswissenschaften und der Medizin und bildet die Grundlage für die Präzisionsmedizin. 

Gemeinsam mit der Professorin Geneviève Almouzni vom Pariser „Institut Curie“ koordinieren Sie das Konsortium „LifeTime“, das als neues sogenanntes Future and Emerging Technologies (FET) Flagship-Projekt der EU auf den Weg gebracht werden soll. Was genau ist ein solches FET-Flagship? 

FET-Flagships sind ehrgeizige Forschungsinitiativen, die über 10 Jahre mit vielen Millionen Euro von der Europäischen Kommission und ihren Mitgliedstaaten gefördert werden. Wissenschaftler und Unternehmen verschiedener Disziplinen aus vielen Ländern – LifeTime wird von mehr als 50 führenden europäischen Wissenschaftsinstitutionen und über 60 Unternehmen unterstützt – verfolgen eine gemeinsame Vision und stellen sich dafür notwendigen großen wissenschaftlichen und technologischen Herausforderungen, die nicht von einzelnen Partnern gelöst werden können. Beispiele für FET-Flagship-Projekte, die bereits von der EC gefördert werden, sind das Human Brain Project, Graphene oder Quantum.

Mit der Förderung sind hohe Erwartungen verbunden. Wie will die „LifeTime“-Initiative die Medizin revolutionieren?

LifeTime wird neue, bahnbrechende Technologien – zum Beispiel Einzelzell-Multi-Omics, moderne bildgebende Methoden, maschinelles Lernen/künstliche Intelligenz, Organoide und CRISPR-Cas – zusammenbringen, weiterentwickeln und auf menschliche Krankheiten anwenden. Damit wird es möglich, den Hergang und den weiteren Verlauf einer Krankheit in einem individuellen Patienten zu verstehen und vorherzusagen. Die molekularen Veränderungen von Zellen in Geweben und ganzen Organismen werden während der Krankheitsprogression gemessen, modelliert und vorhergesagt. Auf lange Sicht werden die entwickelten Technologien dazu dienen, Ärzte über den molekularen Werdegang und die wahrscheinliche Zukunft der Gewebe eines Patienten zu informieren sowie die Konsequenzen einer medizinischen Behandlung aufzuzeigen. Dadurch sollen frühere Diagnosen sowie ein effektives Eingreifen möglich werden. Unser Ziel ist es, dauerhaft europäische Exzellenz und Innovation zu etablieren, um den Menschen echten Fortschritt zu liefern. Wir kennen das menschliche Genom seit vielen Jahren, aber wir wissen nur wenig darüber, wie einzelne Zellen dieses Genom auslesen und darüber ihre biologische Funktion erfüllen. Die Heterogenität der menschlichen Zellen hat es bislang extrem schwierig gemacht, dieses große Geheimnis zu lüften. Mit vorhandenen Verfahrensweisen konnte nur das Mittel vieler verschiedener Zellen analysiert werden. Die nun entstandenen Methoden lösen dieses fundamentale Problem und werden die Grundlagen- und klinische Forschung in der Tat revolutionieren. 

Und mit diesen Methoden werden Sie arbeiten? 

Wir wollen diese neuen Methoden in der Praxis entwickeln und auf die Progression von menschlichen Krankheiten anwenden. Damit wollen wir verstehen, wann und warum Zellen krank werden und vorhersagen, wie man Zellen wieder „auf den richtigen Weg“ bringen kann. Damit uns das gelingen kann, reicht es nicht, Einzelzellmethoden nur weiterzuentwickeln und enorme Datenmengen an biologischer und medizinischer Information zu generieren. Es wird auch notwendig sein, mit „Machine Learning“ diese Daten zu interpretieren und Hypothesen zu generieren, die wir in Organoiden und anderen Krankheitsmodellen im Hochdurchsatz testen werden. Letztlich glauben wir, dass wir damit in, sagen wir, zehn Jahren in der Lage sein werden, Krankheiten viel früher zu erkennen. Außerdem werden wir die Genese und Entwicklung von Zellen im Gewebe eines Patienten verstehen, und dadurch nicht nur neue therapeutische Targets finden können, sondern auch vorhersagen, welche Therapien optimal für den Patienten sind. 

Welches sind die nächsten Meilensteine, die es zu erreichen gilt?

Unser Vorantrag war in der ersten Bewerbungsrunde äußerst erfolgreich. Wir warten im Moment auf die nächste Entscheidung der Europäischen Kommission. Fällt diese Entscheidung positiv aus, werden wir innerhalb der nächsten zwölf Monate die Vision von LifeTime detailliert erarbeiten. Dazu gehört es, einen konkreten Umsetzungsplan zu erstellen, der eine breite Unterstützung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft und unsere Partner in der Industrie findet. Ein oder zwei Projekte werden im Anschluss als FET-Flagships ausgewählt. Im Moment bereiten wir außerdem die erste LifeTime Konferenz vor. Sie soll am 6. und 7. Mai in Berlin stattfinden und Wissenschaftler aus aller Welt zusammenbringen, um die Ziele von LifeTime anzupacken.