Interview | Anis Ben-Rhouma, Gewerkschaftssekretär, Bezirk Berlin-Mark Brandenburg, IGBCE

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Der Bezirk Berlin-Mark Brandenburg der IGBCE umfasst einen Großteil Brandenburgs, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Die Gewerkschaft hat insgesamt rund 600.000 Mitglieder und ist damit die zweitgrößte Industriegewerkschaft Deutschlands. Zu ihrem Organisationsbereich gehören unter anderem Bergbau, Chemie, Energie, Erdöl und Erdgas sowie Versorgungs- und Entsorgungsbetriebe. Mit einem Beitrag, der unter anderem als Gastbeitrag im Tagesspiegel veröffentlicht wurde, haben Gewerkschaftssekretär Anis Ben-Rhouma und das AutorInnen-Team mit den Betriebsratsvorsitzenden Andrea Sacher (Bayer) und Maria Schwarz (B.Braun) sowie Bezirksleiter Rolf Erler kürzlich auf Handlungsbedarfe in der Branche aufmerksam gemacht. Wir haben mit der IGBCE über die Entwicklung der Pharmazeutischen Industrie in der Region gesprochen.

 

1. In einem Beitrag auf der Webseite der IGBCE haben Sie Standpunkte und Vorschläge zum aktuellen Berliner Koalitionsvertrag formuliert. Dabei haben Sie das Regierungsprogramm bezüglich der Perspektiven industrieller Gesundheitswirtschaft für die Hauptstadtregion aus Arbeitnehmersicht beurteilt. Zu welchem grundsätzlichen Ergebnis kommen Sie?

Grundsätzlich kommen wirzu dem Ergebnis, dass es wichtig ist, jetzt etwas zu tun, um gegen den immer wieder auftretenden Mangel an Grundstoffmedikamenten, wie etwa bei Antibiotika, Paracetamol oder Fiebersäften, vorzugehen. Bereits im Vorfeld der Pandemie bestand ein Mangel an Medikamentenproduktion im Land. Denn es ist so, dass wir in Deutschland nicht in der Masse Medikamente produzieren, wie wir sie produzieren könnten. Durch die Pandemie sind bereits bestehende Mängel verschärft worden und seitdem ist das Problem immer wieder in der öffentlichen Wahrnehmung präsent. In Deutschland und auch in Berlin im Speziellem gibt es gute Voraussetzungen, die Abhängigkeit von der Produktion im Ausland zu reduzieren. Diese Voraussetzungen müssen aber politisch mit allen möglichen Instrumenten flankiert werden. Wichtig in der Region ist dabei vor allem ein klares Bekenntnis des Berliner Senats zur industriellen Gesundheitswirtschaft. Denn am Ende des Tages wird es ein breites Bündnis von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft brauchen, um dieses Problem anzugehen.

2. Um substanziell nach vorne zu kommen, haben Sie fünf Kern-Punkte zur Stärkung der industriellen Gesundheitswirtschaft erarbeitet. Einer zielt darauf ab, dass Image der industriellen Gesundheitswirtschaft zu stärken. Was genau schwebt Ihnen vor?

In den Unternehmen gibt es dafür bereits gute Ansätze. Ich habe am Bayer Campus wie auch bei den von uns betreuten B. Braun-Betrieben in Neukölln schon Werbekampagnen gesehen, die klarstellen was diese Unternehmen herstellen und welche Bedeutung diese Produkte für den Alltag haben. Grundsätzlich geht es uns darum, dass in der Öffentlichkeit klar wird, dass wir die Produktion von Medikamenten brauchen, die uns den Alltag erleichtern oder sogar erst möglich machen. Am Beispiel des Fiebersaftes für Kinder zeigt sich dies sehr deutlich: Wenn Kinder stark erkältet sind und Fieber haben, und sie bekommen keinen Fiebersaft, dann haben sie in der Bewältigung des Alltags erstmal ein großes Problem. In einzelnen Fällen kann ein solcher Mangel sogar lebensgefährlich werden. Insofern ist diese Situation keine, bei der man hoffen sollte, dass sich das mit dem Mangel irgendwie erledigt oder es schon irgendwie so gehen wird. Dass es Pharmaunternehmen und -produktion vor Ort braucht, um eine Versorgung sicherzustellen, muss in der Öffentlichkeit klarer werden. Dafür sind sowohl die Politik als auch die Unternehmen erst einmal selbst verantwortlich. Wir helfen aber gern dabei!  Durch Transparenz und gute Arbeitsbedingungen, wie etwa verbindliche Tarifverträge, können Unternehmen dafür sorgen, dass die Akzeptanz wächst und die Gewinnung und Bindung von Fachkräften besser funktioniert. Wir erwarten auch von der Berliner Politik, dies in die entsprechenden Betriebe hineinzutragen.

3. Ziehen Sie bei der Entwicklung des Standorts mit den Unternehmen an einem Strang? 

Pauschal lässt sich das so nicht sagen. Ich glaube, dass wir zu den großen tarifvertraglich gebundenen Unternehmen in der Region ein gesundes sozialpartnerschaftliches Verhältnis haben. Hier sind wir mit den Personalabteilungen und Geschäftsführungen im Austausch, nicht nur zu personaltechnischen Fragen. Dennoch sind wir eine Gewerkschaft und da liegt es in der Natur der Sache, dass es einen Interessenkonflikt zwischen uns – also den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – und den Arbeitgebern gibt. Aber gerade, wenn es um Fragen der Standortsicherung geht, ziehen wir mit den Unternehmen schon an einem Strang. Bei den kleineren Unternehmen wäre allerdings eine intensivere Zusammenarbeit wünschenswert, dafür sind wir immer offen.

4. Die pharmazeutische Industrie galt immer als sehr attraktiver Arbeitgeber. Ist dort der Fachkräftemangel weniger spürbar oder müssen sich auch hier die Arbeitgeber bemühen, um geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen?

Es ist zwar so, dass die großen Player zu Recht weiterhin von ihren Namen bei der Personalgewinnung zehren können. Auf der anderen Seite haben auch sie einen Rückgang an Bewerbungen für Ausbildungsplätze zu verzeichnen und es ist letztlich nur eine Frage der Zeit bis der Mangel an Fachkräften auch hier vollumfänglich ankommt, der bei kleineren Betrieben schon spürbar ist. Spezifisch in der pharmazeutischen Industrie ist, dass es lange Ausbildungen braucht, um in der Produktion oder Entwicklung mitzuwirken. Lücken aufzufüllen, ist hier ein langer Prozess. Und es bleibt abzuwarten, ob sich der Bedarf an Fachkräften in den Produktionsprozessen mit Künstlicher Intelligenz reduzieren lässt, wie das einige diskutieren. Ich jedenfalls bin skeptisch, dass dadurch in naher Zukunft der Personalbedarf deutlich gesenkt werden kann.

5. Abschließend eine Frage zur Situation der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben – was beschäftigt sie derzeit am stärksten?

Aus der Perspektive ihrer Beschäftigung steht da sicherlich die Standortsicherheit ganz oben auf der Liste. Hinzu kommen solche Fragen: Wie bekomme ich mein Arbeitspensum trotz weniger Beschäftigter gestemmt? Werden neue Schicht- und Arbeitsmodelle in meinem Betrieb sinnvoll integriert? Jenseits der Beschäftigung sind es Dinge, die alle beschäftigen: etwa Kitabetreuung, Infrastruktur wie Radwege oder die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Oder die Frage: Finden wir als Familie eine Wohnung in Berlin? Und wenn ja, kann ich sie bezahlen? Auf Letzteres bezogen erhoffen wir uns künftig ein Modellprojekt mit Werkswohnungen. Beim Thema Ausbildungswohnheime gibt es ja schon erste gute Ansätze seitens des Senats. Da muss aus unserer Sicht noch viel mehr kommen.

 

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