Im Portrait: 100 Jahre Ottobock – eine Geschichte der modernen Orthopädietechnik

Als Firma einen Markt komplett verändern, dass wird heute vor allem mit Start-ups aus der Digitalbranche zusammengebracht. Der Medizintechnik-Hersteller Ottobock hat damit schon 1919 erste Erfahrungen gemacht und feiert dieses Jahr sein 100-jähriges Bestehen. In Berlin schließt sich der Kreis für das Unternehmen. 1919 wurde es hier gegründet. Mit der Eröffnung des Standorts auf dem Bötzow-Areal nahe dem Alexanderplatz, kehrten strategische Funktionen 2018 nach Berlin zurück. Hier wird an der Zukunft der menschlichen Mobilität gearbeitet.

Aus heutiger Sicht war Ottobock bei der Gründung ein Start-up. Ein kleines Unternehmen, das auf einen potenziell großen Markt drängte, der noch kaum entwickelt war. Seiner Zeit revolutionierte die Firma die Orthopädietechnik und machte daraus eine Industrie. Denn bis dato stellte fast jeder bei Bedarf Prothesen her – Tischler, Gerber oder Schweißer – je nach dem, welches Material gerade verfügbar war. Seit der Gründung der Orthopädischen Industrie GmbH 1919 in Kreuzberg durch Otto Bock hat sich das deutlich gewandelt. Es war sein Unternehmen und dessen führende Köpfe, die nach ihrer Gründung immer wieder wichtige Impulse in der Orthopädietechnik setzten und das bis heute tun.

In politisch bewegten Zeiten zog es Otto Bock nach der Gründung wieder zurück in seine Heimat, Königsee im Süden Thüringens. Nach der Enteignung durch die Sowjets wird die Produktion ab 1948 im circa 150 Kilometer nördlich gelegenen Duderstadt in Niedersachsen fortgesetzt, wo sich noch heute der Hauptsitz des Unternehmens befindet.

Prägend für die Branche

In seiner Geschichte haben sowohl das Unternehmen, als auch der Gründer Meilensteine gesetzt und die Orthopädietechnik entscheidend geprägt. Sei es mit der Fertigung von Passteilen im großen Umfang und nach vorgegebenen Standards,  oder mit der Entwicklung von myoelektrischen Armprothesen 1965, die von Max Näder, dem Schwiegersohn und Nachfolger von Otto Bock, auf den Markt gebracht wurden. Das Revolutionäre damals: mithilfe der Myoelektrik konnten künstliche Hände erstmals leichte und zerbrechliche wie auch sehr schwere Gegenstände heben. Möglich machten das Elektroden, die Impulse aus den Muskel-Kontraktionen des Stumpfes erfassten und als Steuersignale für die Prothese nutzten. Eine grundsätzliche Technik, die in der Orthopädietechnik noch immer Anwendung findet und auf der noch heute Innovationen basieren.

Gelebte Innovation

Mit mehr als 7.000 Mitarbeitern in 58 Ländern weltweit hat sich Ottobock den Innovations- und Forschergeist bis heute erhalten. Allen voran  Professor Hans Georg Näder, der die Geschäftsführung des Unternehmens mit etwa 1.000 Mitarbeitern 1990 von seinem Vater Dr. Max Näder übernahm und heute Vorsitzender des Verwaltungsrats der Ottobock SE & Co. KGaA ist. Sich selbst bezeichnet Hans Georg Näder als Chief Disruptive Officer, der Dinge neu denkt und Impulse ins Unternehmen gibt. Danach gestaltet sich auch der Anspruch von Ottobock als Unternehmen: „Futuring Human Mobility“ – die Zukunft der menschlichen Mobilität gestalten.

Die digitale Zukunft gestalten bei Ottobock sogenannte interne Start-up-Teams, die gezielt digitale Technologien und Anwendungen für die Orthopädietechnik entwickeln. Diese Teams arbeiten Standort übergreifend und sitzen in Berlin im Ottobock Future Lab, in Duderstadt oder in Wien.

Ebenfalls wird an allen drei Standorten geforscht und entwickelt. Zu den aktuellen Innovationen des Unternehmens gehört die künstlich intelligente Prothesensteuerung Myo Plus mit Mustererkennung für Menschen mit einer Amputation unterhalb des Ellenbogens. Die Prothesensteuerung kehrt das bisherige Nutzerverhalten um. Der Anwender lernt nicht  nur, die Prothese zu benutzen, sondern die Prothese lernt auch vom Anwender. Möglich machen das acht Elektroden, die Biosignale im Unterarmstumpf erfassen, und selbstlernende Algorithmen, die sie anschließend interpretieren. Erkannte Muster werden dann einer bestimmten Handbewegung zugeordnet und automatisch von der Prothese ausgeführt. Der Nutzer kann die erkannten und gespeicherten Bewegungsmuster selbst per App optimieren.

Neben der Digitalisierung gibt Ottobock aber auch Antworten auf den demografischen Wandel, zum Beispiel in Form des Exoskeletts Paexo Shoulder. Es soll vor allem bei Überkopfarbeiten entlasten. Das etwa zwei Kilogramm schwere Exoskelett wird am Körper wie ein Rucksack getragen und entlastet Schultern, Nacken und Arme. Das beugt langfristig arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen vor, sodass Arbeitnehmer mit körperlich anspruchsvollen Tätigkeiten länger ihrem Beruf nachgehen können. Solche Innovationen werden bei Ottobock im Haus entwickelt.

Berlin is for future

Erste Schritte zurück in die Hauptstadt machte das Unternehmen 2009 mit dem Ottobock Science Center, das als Schaufenster der Orthopädietechnik diente. Bis es 2018 geschlossen wurde, zählte das Center mehr als eine Million Besucher.

Am 2018 bezogenen Ottobock Future Lab auf dem Bötzow-Areal an der Prenzlauer Allee sitzen nun unter anderem Teile der Unternehmenskommunikation und -strategie, des Marketings und das Hauptstadtbüro. Der Bereich Human Mobility, der sich auf rehatechnische Hilfsmittel und Rollstühle fokussiert, sitzt darüber hinaus mit Teilen der Geschäftsführung, des Marketings, des Vertriebs sowie der Forschung und Entwicklung auf dem Gelände. Für Berlin sprach neben der Firmenhistorie vor allem die Digitalisierung. „Berlin zieht gerade internationale Fachkräfte an, die auf dem Feld der Digitalisierung und eher Projekt orientiert arbeiten“, sagt Mark C. Schneider, Firmensprecher und Leiter der Unternehmenskommunikation. Dass das Areal ein attraktiver Standort im Herzen von Berlin ist, zeigen auch vier Start-ups und das Restaurant La Soupe Populaire Canteen, die bereits eingezogen sind.  Für die Zukunft sind in Neubauten hochwertige Wohnungen und ein Biergarten geplant. Damit schließt sich auch für das Bötzow-Quartier der Kreis. Denn hier befand sich am Ende des 19. Jahrhunderts einer der größten Biergärten der Hauptstadt.

Ausstellung auf Bötzow zur Zukunft der menschlichen Mobilität

Im Ottobock Future Lab auf dem Bötzow-Areal an der Prenzlauer Allee können Besucher in einer neuen Fotoausstellung einen Blick in die Zukunft der menschlichen Mobilität und darüber hinaus werfen. Der Verleger Gerhard Steidl hat dort dasBuch Futuring Human Mobility, das Prof. Hans Georg Näder zum 100-jährigen Jubiläum des Unternehmens herausgab, inszeniert. Im historischen Foyer, welches nach Plänen von David Chipperfield restauriert wurde, lernen sie die Designer, Forscher und Philosophen aus dem Text- und Bildband an ihren Wirkungsstätten kennen. Die Öffnungszeiten entnehmen Sie bitte: https://www.ottobock.com/de/ausstellung-auf-bötzow/