Geschlechtersensible Medizin – ein Gewinn für alle

Ergebnisse der Zukunftswerkstatt 2023

 

Viele kennen das Wort "Gender" vor allem aus der Diskussion um die Verwendung geschlechtergerechter Sprache. Auch in der Medizin und der Pharmazie spielt die Unterscheidung der Geschlechter eine wichtige Rolle. Es geht dabei jedoch weder um Frauen- noch um Männergesundheit an sich, sondern um die angemessene Berücksichtigung der biologischen, aber auch der sozialen Besonderheiten der Geschlechter in Medizin und Versorgung. Richtig verstanden, ist geschlechtersensible Medizin ein wichtiger Baustein der personalisierten Medizin. Ihre Umsetzung führt zu einer besseren Versorgung aller.

 

 



Die diesjährige Zukunftswerkstatt Innovative Versorgung Berlin-Brandenburg stand unter der Überschrift „Auf dem Weg zur individualisierten Medizin: Diversität und Geschlechtersensibilität in Prävention, Versorgung und Forschung verankern“. Bereits die einleitenden Vorträge verdeutlichten die Wichtigkeit und die Vielschichtigkeit des Themas. Frau Prof. Stadler, Leiterin des Instituts Gender in Medicine der Charité wies zu Beginn auf die vier Dimensionen von Geschlecht hin. Während das biologische Geschlecht bei der Geburt zugeordnet wird und u. a.  Chromosomen und Hormone einer Person umfasst, beziehen sich die anderen Dimensionen auf die Geschlechterrolle (wie verhalten ich mich), die Geschlechteridentität (wie erlebe ich mich) und die sexuelle Orientierung (wen liebe ich).

In der Krankheitsbildung und Krankheitswahrnehmung geht es immer um ein Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte von Geschlecht. Während das biologische Geschlecht für Aspekte wie die Pathophysiologie, die Manifestation einer Krankheit oder das Ansprechen auf eine Behandlung verantwortlich ist, spielen die anderen Aspekte eine Rolle, wenn es um Lebensstil-Faktoren wie Ernährung, Bewegung und Stresserleben geht, aber auch bei der Hilfesuche und der Inanspruchnahme von präventiven und kurativen Maßnahmen. In diesem Kontext haben Stadler et al. ein „Minimal Diversity Item-Set“ entwickelt, das in Forschung und Praxis berücksichtigt werden sollte. Es umfasst neben dem Geschlecht auch Aspekte wie Ethnizität, Weltanschauung und Religion, Alter, sozialer Status, Pflege- und Sorgearbeit sowie psychische und körperliche Gesundheit.



 

Da das Geschlecht (ganz zu schweigen von weiteren Dimensionen) in der Vergangenheit kaum oder doch zu wenig in Studiendesigns und Forschung berücksichtigt wurde, wissen wir oft nicht, ob und welche Unterschiede in Symptomen oder dem Ansprechen auf eine Behandlung zwischen den Geschlechtern bestehen. Dass es sie gibt, ist inzwischen unstrittig.

So liegt die Lebenserwartung von Männern in vielen entwickelten Ländern unter der von Frauen (in Deutschland 4,8 Jahre). In der Klosterstudie von Marc Luy hingegen unterschied sich die Lebenserwartung von Mönchen und Nonnen um weniger als 2 Jahre. Der unterschiedliche Lebensstil von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft und entsprechende Rollenbilder scheinen also einen erheblichen Einfluss auf die unterschiedliche Lebenserwartung zu haben. So werden Präventionsangebote wie Kurse zu Ernährung, Bewegung und Stress, aber auch Vorsorgeuntersuchungen von Frauen wesentlich häufiger angenommen als von Männern. Kolip et al. fanden zudem heraus, dass in Deutschland der Geschlechterunterschied in der Lebenserwartung umso geringer ist, je höher der Grad der Gleichstellung der Geschlechter.

Bei Krankheiten wie Herzinfarkt oder Diabetes sind die Symptome, die Männer zeigen, in der Ärzteschaft und in der Bevölkerung wesentlich bekannter als die Symptome von Frauen. Das liegt auch daran, dass die Symptome von Frauen oft unspezifischer sind. Das wiederrum führt dazu, dass die entsprechenden Krankheiten bei Frauen später diagnostiziert werden. So beträgt die Zeit bis zu einer Hospitalisierung nach Herzinfarkt bei Männern rund 2,5 bei Frauen rund 4,5 Stunden.

 



Frau Dr. Seeland, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für geschlechtersensible Medizin, wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass Frauen mit Herzkrankheiten eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben daran zu versterben als Männer. Die Letalität bei Herzerkrankungen in Berlin beträgt für Frauen 12%, für Männer hingegen nur 8%, in Brandenburg sind es 19% für Frauen und 14% für Männer.

Umgekehrt werden Männer wesentlich seltener auf Osteoporose hin untersucht und behandelt als Frauen. Sie erleiden aber etwa 1/3 der osteoporose-bezogenen Hüftbrüche in den USA und in Europa. Auch psychische Erkrankungen scheinen bei Männern unterdiagnostiziert zu sein.

In der Pharmakologie spielt das Geschlecht ebenfalls eine wesentliche Rolle. Frauen benötigen oft eine geringere Dosis an Arzneimitteln als Männer, besonders wenn sie in höherem Alter sind und ein eher geringes Gewicht haben. Da Arzneimittelstudien aber vielfach an Männern durchgeführt wurden, ist die optimale Dosis für Frauen meist gar nicht bekannt und es besteht eine Tendenz zur Überdosierung.

Aktuell haben wir in vielen medizinischen Bereichen ein „Gender-Data-Gap“, d. h. eine fehlende oder unterrepräsentierte Datenerhebung für ein bestimmtes Geschlecht. Solange dem so ist, kann auch Künstliche Intelligenz (KI) nur bedingt gute Ergebnisse liefern. Denn KI lernt anhand vorhandener Daten. Ein „Gender Data Gap“ kann damit zum „Gender-Bias“ und zur Reproduktion von Fehldiagnosen und falschen Handlungen führen.  

Es ist also immens wichtig, dass in der Forschung Geschlechtersensibilität berücksichtigt wird. Ein Toolkit, das dabei helfen kann, nennt sich AdvanceGender und wurde von Frau Prof. Holmberg (Medizinische Hochschule Brandenburg) vorgestellt. Die Website ist das Ergebnis eines BMBF-geförderten Projekts der Universität Bremen, des Robert-Koch-Instituts und der Medizinischen Hochschule Brandenburg. Sie zeigt Wege auf, wie Vielfalt und soziale Aspekte von Geschlecht in der Gesundheitsforschung und -berichterstattung besser berücksichtigt werden können. Neben dem Geschlecht spielt hier auch das Konzept der Intersektion eine Rolle. Es besagt, dass einem Individuum verschiedene Diversitätsmerkmale zugeordnet werden können (z. B. weiblich, mit Migrationshintergrund, über 65 Jahre). Mit dem Konzept der Intersektionalität wird zum Ausdruck gebracht, dass soziale Dimensionen untrennbar miteinander verwoben sind und dass in der Kombination unterschiedlicher Dimensionen einzigartige Lebenswirklichkeiten entstehen können.

 

Die Implikationen aus den einleitenden Vorträgen wurden in Workshops diskutiert. Aus den Vorträgen und Diskussionen ergeben sich unter anderem folgende Empfehlungen:

Forschung und klinischen Studien sollten immer das Konzept der Geschlechtersensibilität berücksichtigen.

Geschlechtersensible Medizin muss Eingang in die Curricula der Aus- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe (einschließlich pharmazeutischer Berufe) finden. Ebenso müssen Erkenntnisse der geschlechtersensiblen Medizin in bestehende und künftige medizinische Leitlinien und Standards integriert werden.

Maßnahmen der Prävention sollten geschlechtersensibel geplant und auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten werden. Dies betrifft sowohl die Risikofaktoren als auch die Ansprache der Patient:innen.

Medizinische Versorgung sollte zunehmend personalisiert werden und dabei geschlechtersensible, ethnische und soziale Aspekte berücksichtigen. Um eine solche Versorgung umzusetzen, braucht es eine umfassend interprofessionelle Zusammenarbeit verschiedener Gesundheitsberufe und darüber hinaus.

Auch im öffentlichen Diskurs sollten geschlechterspezifische Risikofaktoren und entsprechende Präventionsmöglichkeiten thematisiert werden, um das Bewusstsein hierfür zu schärfen und die Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung zu erhöhen. Geschlechtersensible Gesundheitskompetenz sollte bereits in Kitas und Schulen vermittelt werden.

 

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