Aktuelles Interview: Stefanie Stoff-Ahnis, Geschäftsleitung AOK Nordost

Stefanie Stoff-Ahnis ist seit April 2016 Mitglied der Geschäftsleitung der AOK Nordost. In dieser Funktion führt sie das Ressort Versorgung mit 1.558 Mitarbeitern und einem jährlichen Haushaltsvolumen von 6,5 Milliarden Euro. Frau Stoff-Ahnis arbeitet seit 2006 bei der Krankenkasse und war bereits in verschiedenen Leitungspositionen tätig. Zuvor war sie im Gesundheitswesen auf der Seite der Leistungserbringer beschäftigt. Die 41-jährige Volljuristin war als Anwältin zugelassen und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Berlin. Im Interview spricht Stefanie Stoff-Ahnis über digitale Versorgungsstrategien und erklärt, warum die Patientensouveränität gestärkt werden sollte.

 

Die AOK Nordost war mit ihren Kooperationspartnern bei der jüngsten Ausschreibung des Innovationsfonds mit dem Projekt „Cardiolotse“ erfolgreich. Worum geht es bei diesem Projekt?

Das Projekt ist ein neues Lotsenmodell, das wir gemeinsam mit Vivantes entwickelt haben. Ziel dieses Projektes ist es, die Versorgung für chronisch kranke Menschen zu verbessern. Deswegen steht eine persönliche Begleitung der Patienten während und nach einem Klinikaufenthalt im Fokus – unnötige Wiedereinweisungen ins Krankenhaus lassen sich so vermeiden. Der „Cardiolotse“ fungiert als Bindeglied zwischen dem Patienten und allen weiteren Akteuren der Versorgung. Er soll Lücken beim Übergang von der stationären zur ambulanten Patientenversorgung schließen. Neben dem Entlassmanagement ist seine zentrale Aufgabe, den Patienten umfänglich und verständlich über seine Erkrankung mit Bezug auf Alltagssituationen aufzuklären und ihm als persönlicher Ansprechpartner zur Seite zu stehen, um Ängste und Unsicherheiten abzubauen. Die Intensität der Betreuung richtet sich dabei nach dem individuellen Bedarf jedes Patienten. Er soll befähigt werden, souveräner mit seiner Erkrankung umzugehen. Der „Cardiolotse“ wird für diese Aufgabe geschult und kann sich bei Fragen jederzeit mit einer hochspezialisierten Krankenpflegefachkraft austauschen und den engen Kontakt zu einem Facharzt nutzen. Daneben wird sich der „Cardiolotse“ um die Terminkoordination für ärztliche Kontrolluntersuchungen und die Suche nach geeigneten Therapeuten und Herzsportgruppen kümmern. Er kann den Patienten auch bei der regelmäßigen Medikamenteneinnahme unterstützen. Auf diese Weise kann er Abweichungen von den durch die beratenden Ärzte vorgeschlagenen Behandlungsgrundsätzen feststellen, gesundheitlich kritische Situationen rechtzeitig erkennen und die notwendigen Maßnahmen einleiten. Im Rahmen der Förderung durch den Innovationsfonds wird das Modell zunächst bei chronisch Herzkranken mit einer Ischämischen Herzerkrankung (z. B. einem Herzinfarkt) oder Herzrhythmusstörungen pilotiert. Ist das neue Lotsenmodell erfolgreich, könnte sich daraus ein eigenständiges, die Ärzte unterstützendes Berufsfeld entwickeln, das auch bei anderen chronischen Erkrankungen zum Einsatz kommt.

Eines der dominierenden Themen in der Gesundheitswirtschaft ist die Digitalisierung. Wieviel Digitales steckt im Projekt „Cardiolotse“?

Die Digitalisierung ist einer der wichtigsten Bausteine im Strategieprozess der AOK Nordost. Bereits seit mehr als zehn Jahren bringen wir innovative, digitale Versorgungsstrategien auf den Markt und verfolgen diesen Weg konsequent weiter. Eine der Prämissen lautet dabei, digitale Versorgungskomponenten entlang des Versorgungsprozesses zu integrieren. Auch dabei steht der persönliche Zugang zum Menschen für uns an erster Stelle. Der „Cardiolotse“ wurde nicht um ein digitales Produkt herum gebaut – vielmehr werden digitale Komponenten dort eingesetzt, wo sie die Versorgung erleichtern. Der Projektansatz wird also an sinnvollen Stellen auch auf technische und digitale Unterstützung zurückgreifen. In dem Lotsenmodell geht es aber hauptsächlich um den Aufbau eines engen, persönlichen Kontaktes zwischen Patient und „Cardiolotsen“. In der Funktion eines Patientenbegleiters und „Kümmerers“ fungiert Letzterer als Ansprechpartner für den Patienten bei seinen individuellen krankheitsspezifischen Anliegen. Geplant ist zudem eine elektronische Dokumentation bis hin zu einer elektronischen Patientenakte, auf die im Idealfall dann auch die behandelnden Ärzte Zugriff erhalten. 

Innovationen in der Gesundheitswirtschaft waren in der Vergangenheit zumeist Produktinnovationen, also neue Medikamente oder Medizintechnik. Aktuell scheint die Bedeutung neuer Prozesse bei Prävention, Versorgung und Rehabilitation beständig zuzunehmen. Warum ist das so?

Genau diese Frage haben wir uns bei der Konzeption des „Cardiolotsen“ gestellt. Aus unserer Sicht erfordert das komplexe Gesundheitssystem einen Perspektivwechsel. Die Sichtweise des Patienten und seine individuelle Situation sind maßgeblich für den Erfolg neuer Projekte. Ein wesentlicher Grund dafür, dass Patienten mit chronischen Herzerkrankungen immer wieder als Notfall in ein Krankenhaus eingewiesen werden, ist der „Bruch der Versorgung“ beim Übergang aus der stationären in die ambulante Behandlung. Hier bedarf es neuer innovativer Lösungen, die über das gesetzliche Entlassmanagement hinausgehen und den Prozess für den Patienten spürbar erleichtern und verbessern. Er soll in die Lage versetzt werden, seine Erkrankung eigenverantwortlich zu managen und positiv zu beeinflussen – die Patientensouveränität wird gestärkt. Eine bessere Vernetzung der Versorgungsebenen durch spezialisierte Lotsen als Bindeglied kann die Wirksamkeit der Therapie steigern. Ein entscheidender Faktor ist dabei, dass der Patient Verantwortung für den Umgang mit seiner Erkrankung übernehmen kann und wird. 

Beim Projekt „Cardiolotse“ ist Vivantes einer der wichtigsten Kooperationspartner. Inwieweit ist die Clusterstruktur in Berlin und Brandenburg für die AOK wichtig, um derartige Kooperationsprojekte auf den Weg zu bringen? 

Das Konsortium im Projekt „Cardiolotse“ setzt sich aus drei zentralen Partnern zusammen: Wir fungieren als Konsortialführer, unsere Konsortialpartner sind das Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH mit Herrn Professor Darius als leitendem Mediziner und Frau Professor Sundmacher von der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) – Fachbereich Health Services Management, die die Bewertung des Projektergebnisses vornehmen wird. Darüber hinaus ist die Bildung eines Expertenrates geplant. In diesem engagieren sich der Berufsverband Deutscher Internisten e. V. (BDI), der Bundesverband Niedergelassener Kardiologen e. V. (BNK), die Deutsche Herzstiftung e. V. und weitere Gesundheitspartner im Projekt. Innovationen entstehen oft an Schnittstellen, denn für ihren Erfolg ist ein Wissenstransfer zwischen Experten aus unterschiedlichen Bereichen essentiell. Die etablierte Clusterstruktur in Berlin und Brandenburg bietet für innovative Ideen wie den „Cardiolotsen“ einen geeigneten Vernetzungsraum, um sich auszutauschen.